Mittelalter-Hospitäler in Geschichtsdarstellungen |
Johanniterregel und Heilig-Geist-Regel gelten seit der Herausbildung der Krankenpflege als aufopferungsvoller
und selbstloser
Frauenberuf im 19. Jh. als die mittelalterlichen Vorbilder für christliche Caritas bzw. Diakonie. Dabei sind ihr genaues Alter und ihre Entstehungszusammenhänge recht unklar. Regeln von Hospital-Bruderschaften in niederländischen Handelsstädten des späten 12. Jahrhunderts sind dagegen als Originalurkunden erhalten. Die den Kranken zu erweisende Unterstützung und Pflege steht darin nicht in dem liturgischen und asketischen Kontext wie in den Hospitalordensregeln, eher wie gegenseitige Hilfe, die ein reisender Kaufmann zum Beispiel dem andern leistete. Möglicherweise sind die einschlägigen Bestimmungen der bruderschaftlichen Hospitalregeln sogar ursprünglicher als die der Ordensregeln und diese von jenen abgeleitet.
Ausgangspunkt | Die Texte | Gruppierung der Texte nach Wortlautübereinstimmungen | Unterscheidung der verschiedenen Inhalts-Schichten in den Textgruppen | Entwicklungsgeschichte der Inhalte und der Texte | Resümee |
1188—1196: Brügge und Gent | Geistliche Werke | Brüsseler Einfluß | Gemeinsame Mahlzeiten | Jerusalemer Wirkung? | Eintritt | Cambrai-Lessines im Zentrum | Arbeit | Picardie | Strafen | Frankreich | Besitz | Habitus |
zu evtl Einfluß Jerusalem auf Brügge Maréchal 95ff
Der Schlüssel zur Bestimmung des Altersverhältnisses zwischen der Jerusa-lem-Brüsseler und der Brügge-Genter Tradition zum Thema Aufnahme der Kranken liegt darin, daß Brügge B' und Gent sie beide in nacheinander niedergeschriebenen Textschichten aufweisen die durch die Brügger und die Genter Originalurkunde klar datiert werden können.
Die ursprüngliche Brügger Tradition
Item Siquis peregrinus vel errans …
,
die bereits in der Urkunde von 1188 steht ist also älter als
Quicumque igitur infirmus domum ingressus fuerit primum Deo per confessionem …
,
die Jerusalem-Brüsseler Tradition, die die Neufassung Brügge B' und die Genter Ur-kunde von 1196 am Ende hinzugefügt haben. Der Jerusalem-Brüsseler Einfluß auf Brügge-Gent hat zwischen Januar 1188 und 1196 gewirkt.
Wäre die Jerusalem-Brüsseler Tradition dem Verfasser von B im Januar 1188 bereits bekannt gewesen, so wäre schwer zu erklären, warum er sie nicht verwendet. haben sollte. Daß 1188 in Brügge noch keine Kranken gepflegt worden wären und es deswegen keinen Grund gegeben hätte, die Bestimmung aus Jerusalem-Brüssel über sie einzufügen, kann nicht sein: man hatte ja eine Bestimmung über die Speisung der Pauperes et inbecilles lecto accumbentes
, nur eben nicht die aus Jerusalem-Brüssel. Daß die Jerusalem-Brüsseler Tradition 1188 schon bestanden hätte, aber in Brügge noch nicht bekannt gewesen wäre, ist bei der zentralen Verkehrslage und dem überaus regen Reiseverkehr dieser Stadt ebenfalls sehr schwer vorstellbar.
Beim Thema Stundengebet haben wir gesehen, wie der Bearbeiter Bg eine alte Brügger Formulierung unterpungiert und über der Zeile durch diejenige aus Brüssel ersetzt hat; also dürfte auch beim Themenbereich Kranke Brüsseler Einfluß die Änderungen und Hinzufügungen in Brügge bewirkt haben und nicht die Brüsseler Tradition auf Brügge-Gent zurückgehen.
Die Anfügung zum Verbleib der Güter eines Eintretenden konnten Brügge-Gent nur aus Brüssel, nicht aus Jerusalem übernehmen. Jerusalem kann deshalb für Brügge höchstens indirekt über Brüsseler Vermittlung ein Vorbild gewesen sein.
Jerusalem mit der vollständigen Sakramentenspendung kann im übrigen eher Vorlage für Brüssel-Brabant gewesen sein, das die Kommunion weggelassen und Eigentumsbestimmungen daran geknüpft hätte, als daß umgekehrt Jerusalem die Eigentumsbestimmungen weggelassen und die Kommunion zur Beichte hinzugefügt hätte - das sollte aber noch durch weitere Belege gestützt werden.
Vergleicht man, was die Brügger und was die Genter Übernahme mit der Brüsseler Vorlage gemacht haben, setzt die erstere bereits einen eigenen Hospital-Pfarrer voraus, der den Kranken im Hospital die Beichte abnimmt, während das in Gent noch einem der örtlichen Pfarrer vorbehalten ist. Leider haben wir vor 1200 noch keine anderen Quellen darüber, wann das Brügger St.-Janshospitaal eine eigene Pfarrei geworden ist.
Cambrai-Lessines unbeeinflußt von Jerusalem-BrüsselEine Beeinflussung durch Jerusalem-Brüssel wie in Brügge hat es in Cambrai-Lessines überhaupt nicht gegeben. Noch 1247 übernimmt Lessines die Formulierung Cambrais, in der nichts von Beichte oder Kommunion beim Eintritt eines Kranken und auch nichts vom Verbleib seines Eigentums gesagt ist.
Cambrai ist durchaus erklärbar als eine religiöse Parallelle zu der ältesten Schicht Brügges. Im Vergleich zu Brügge beschränkt sich Cambrai auf Aufnehmen, Speisen und Pflegen von Kranken, Reisende kommen nicht vor, und es ist begibt sich bei der Formulierung dieses Gebots in die Nähe der Benediktinerregel: Omnes supervenientes hospites tanquam Christus suscipiantur
. Die Kranken sind mithin die Herren des Hauses. Keine Rede ist aber davon, daß die Kranken bei ihrer Aufnahme Sakramente empfangen würden. Die Einschränkungen der freien Spei-senwahl auf Schwerkranke, wie in Brügges ältester Schicht, gibt es in Cambrai-Lessines auch nicht, und am Ende ist noch eine allgemeine Bestimmung über sorgfäl-tiges Behüten (custodia
) der Kranken hinzugefügt, die es wiederum in Brügge nicht gibt. Erklärbar sind diese Unterschiede eventuell auch durch eine andere Klientel, aber die Tendenz zum Religiösen allein hätte auch schon genügt, die Kranken und deren Pflege in den Mittelpunkt zu stellen, ist das doch ein Werk der Barmherzigkeit und eventuell auch bereits eine asketische Übung, Reisende zu beherbergen dagegen nicht.
Der Brügger Bearbeiter Bg, der in die ältere Brügger Formulierung Siquis peregrinus […] hospitium a domo requisierit recipietur una nocte tantum
vor recipietur
das Wort caritative
über der Zeile eingefügt hat, Cambrai als Vorbild gehabt haben.
© Bernhard Höpfner 2002-2022.