Mittelalter-Hospitäler in Geschichtsdarstellungen |
Johanniterregel und Heilig-Geist-Regel gelten seit der Herausbildung der Krankenpflege als aufopferungsvoller
und selbstloser
Frauenberuf im 19. Jh. als die mittelalterlichen Vorbilder für christliche Caritas bzw. Diakonie. Dabei sind ihr genaues Alter und ihre Entstehungszusammenhänge recht unklar. Regeln von Hospital-Bruderschaften in niederländischen Handelsstädten des späten 12. Jahrhunderts sind dagegen als Originalurkunden erhalten. Die den Kranken zu erweisende Unterstützung und Pflege steht darin nicht in dem liturgischen und asketischen Kontext wie in den Hospitalordensregeln, eher wie gegenseitige Hilfe, die ein reisender Kaufmann zum Beispiel dem andern leistete. Möglicherweise sind die einschlägigen Bestimmungen der bruderschaftlichen Hospitalregeln sogar ursprünglicher als die der Ordensregeln und diese von jenen abgeleitet.
Ausgangspunkt | Die Texte | Gruppierung der Texte nach Wortlautübereinstimmungen | Unterscheidung der verschiedenen Inhalts-Schichten in den Textgruppen | Entwicklungsgeschichte der Inhalte und der Texte | Resümee |
Sammlung | Überlieferung | Form | Gebrauch | Forschungsstand zur Entstehungsgeschichte | Ergebnis |
Datierung, Entstehungszeit | Beteiligte Personen | Anlässe | Nachträgliche Änderungen | Ausschmückung |
Logisch | Paläographisch |
An der ältesten Brügger Urkunde (BRG) scheinen mehrere Hände geschrieben zu haben. Daher soll mithilfe eines Schriftvergleichs versucht werden, den Text von BRG in verschiedene Textstufen zu zerlegen, die jedenfalls nicht genau gleichzeitig geschrieben worden sein können, um von da aus später die allmähliche Zusammensetzung des Textes aus verschiedenen Stücken untersuchen zu können.
Hospitalregeln, die nicht nur auf Originalurkunden überliefert sind, sondern deren Original auch noch die allmähliche Entstehung des Textes aus Grundbestand, Einfügungen, Nachträgen, Änderungen veranschaulicht, sind äußerst selten. — Allerdings ist im Falle der ältesten Hospitalregel von Brügge in der bisherigen Forschung auch noch keine systematische Untersuchung des mit den verschiedenen Schreiberhänden angedeuteten Entstehungsprozesses vorgelegt worden. In meiner Magisterarbeit habe ich die Hände BRGa bis BRGf anhand charakteristischer Buchstabenformen folgendermaßen unterschieden:
Der Herausgeber Gilliodts-van Severen, Règlement bringt diese Passagen als Fußnoten und kennzeichnet sie als Ajouté à la suite:… Vansteenkiste, Hospitaalstatuten in seiner Beschreibung der Urkunde, S. 116: Verschillende handen hebben die tekst aangevuld.. Maréchal, Brugge geht darauf nicht selbst ein, erwähnt nur S. 95 Anm. 33, daß Himpens, S.-Janshospitaal Brugge, S. 33, BRGb als von einer anderen Hand geschrieben ansieht.
Der größte Teil des Textes der Brügger Hospitalregel ist in einer einheitlichen Schrift geschrieben. Der Schreiber dieses Textanteils muß als erster an der Urkunde gearbeitet haben, weil von seiner Hand die Invokation in der ersten Zeile herrührt. Auch die Datumszeile am Schluß gehört aber zu seinem Anteil. Von VII. ab hat er jedes neue Kapitel, dessen Anfang durch das Wort "Item" gekennzeichnet wird, auf einer neuen Zeile anfangen lassen. Ab XVII,1 beginnen fast alle neuen Kapitel mit der Formulierung "Item. Siquis"; und das darin vorkommende "S" kann sozusagen als ein Leitbuchstabe für diese Hand bezeichnet werden. Es kommt weder in einem der von anderen Händen geschriebenen Textanteile auf BRG noch in BRG2 vor. BRGa bildet es aus zwei ineinander gehängten "C".
Der Schreiber, der den frühesten und umfangreichsten Teil des Textes von BRG geschrieben hatte, BRGa, hat ab XII nicht nur mit jedem Kapitel eine neue Zeile angefangen, sondern auch Leerzeilen davor übriggelassen, nämlich vor XII 2½ Leerzeilen, vor XIII, XIV, XVII je 2 Leerzeilen; vor XVIII, XIX,1, XXI je 1 Leerzeile, ausnahmsweise keine vor XXIII und XXV (hier schien ihm der Platz für seinen Text vielleicht knapper zu werden als vorher kalkuliert, er begann jedoch weiterhin jedes Kapitel auf einer neuen Zeile); nach XXV,3 etwas über 1 Zeile und nach XXVIII etwas über 3 Leerzeilen.
Das große "S" von BRGa:
Die beiden Zeilen zwischen XV und XVII rechne ich als von BRGa leer gelassen, auch wenn sie jetzt nicht mehr leer stehen: Die Schrift, mit der diese beiden Zeilen gefüllt sind, unterscheidet sich bei mehreren charakteristischen Buchstaben von derjenigen des frühesten Schreibers.
Item Quia melior est obedientia quam victime omnes ad obedientiam magistro suo tenentur Quod siquis fratrum vel sororum contra ipsius preceptum vel alicuius cui vices suas commisit causa peregrinandi vel alio modo voluntatem propriam faciendi iam dictam domum exierit introitum in eandem de cetero non habebit nisi digne penituerit et bonos intercessores habuerit
An dieser Stelle erhält das "d" eine Oberlänge, die von links schräg herabfällt. BRGa hatte dagegen den Schaft des "d" auf der Mittellinie über dem linken Rand des Bäuchleins angesetzt und ihn zunächst der Mittellinie waagrecht nach rechts folgen lassen, bevor er in die Senkrechte abfällt; oder, in einigen seltenen Fällen, hatte er einen ganz senkrechten Schaft durch Ober- und Mittellängen hindurchgezogen.
Der Bauch des "a" ist in XVI, ganz im Gegensatz zum Gegenstück an den von BRGa geschriebenen Stellen, so ausgedehnt, daß das Dach, das von links her umgebogene obere Schaftende nicht mehr zu erkennen ist.
Der frühere Schreiber hatte den oberen Schenkel der tironischen Note für "et" ebenso wie das generelle Kürzungszeichen für "m", "n" usw. als zweibogige Wellenlinie geformt. Z 84-91 dagegen ist davon nur ein Bogen übriggeblieben, der nach unten durchhängt.
Auch hat in diesen Zeilen das "g" seinen kräftig nach rechts ausgreifenden Unterschwung, den Schuh, zum Teil verloren, den es bei BRGa deutlich aufweist.
Ähnlich hatte das "x" einen kräftigen waagrechten Vorstrich am linken unteren Ast besessen, der den ganzen vorausgehenden Buchstaben unterstreicht. Z. 84-91 wird stattdessen der linke untere Ast des "x" in seiner eigenen schrägen Richtung bis weit unter die Zeile weitergeführt.
Eine andere Eigenart der Schrift in diesen beiden Zeilen ist die Abkürzung der Konjunktion "vel" durch bloßes "l¯", während überall sonst in dieser Urkunde und in BRG2 "ul¯" als Abkürzung für dieses Wörtchen verwendet wird.
Das kleine "d" von BRGb und das von BRGa:
Das kleine "a" von BRGb und das von BRGa:
Das Kürzungszeichen "-" von BRGb und die von BRGa:
Das kleine "g" von BRGb und das von BRGa:
Das kleine "x" von BRGb und das von BRGa:
Die Abkürzung für "vel" von BRGb und die von BRGa:
Der Text von Z. 139 bis 143 (XX) nimmt auf dem Original genau eine Zeile ein. Nach der Raumeinteilungsgewohnheit des ersten Schreibers wäre hier wieder eine Leerzeile zu erwarten gewesen, und es läßt sich auch zeigen, daß diese Zeile nachträglich von einer anderen Hand geschrieben wurde. Hier ist die Feder überhaupt flacher angesetzt als im übrigen Text auf BRG. Das zeigt sich an den sehr flach der Linie anliegenden Fußstrichlein der auf der Grundlinie stehenden Schäfte. Die Buchstaben scheinen in dieser Zeile mehr als in den anderen aus rechten Winkeln zusammengesetzt zu sein.
Item. Siquis qui non est frater vel soror domus fratrem vel sororem turpiter percusserit et super hoc comprobatus fuerit: sine spe revertendi foras expelletur. pro turpi autem eloquio .xl. diebus expelletur.
Beim "d" ragt der Schaft nicht nur, wie bei BRGb im Gegensatz zu BRGa, über die Mittellinie nach oben hinaus, sondern er überragt sogar alle anderen Oberlängen und endet oben mit einer kräftigen Rechtskurve.
Der linke untere Ast des "x" beginnt ebenfalls als Kurve, nach oben offen und den vorangehenden Buchstaben unterfangend.
In der Verbindung mit "o" berührt "r", die Form des Majuskel-R im Rahmen der Mittellänge nachahmend, das "o" in der Mitte der rechten Bauchseite. Überall sonst ist die obere Hälfte dieses "R" bis auf die Grundlinie herab gezogen, so daß der "Abstrich" sich zu einem flachen oder gar wieder ansteigenden Strich verändern muß.
Das "a" hat an dieser Stelle ein großes, von links herübergebogenes Dach, mit voller Federbreite betont (vgl. flacher Federansatzwinkel).
Das kleine "d" von BRGc
Das kleine x (Zahlzeichen für 10) von BRGc
Die "or"-Ligatur von BRGc
Das kleine "a" von BRGc
Hanc penitentiam sustinebit. siquis in eadem domo percussor inventus fuerit. et ad hec vir coram viris. mulier coram mulieribus graviter verberabitur.
Von Z. 165 bis Z. 168 (XXIV) findet man wieder übermäßige Oberlängen am "d", doch sind es hier nie, wie bei BRGa, BRGb, BRGc, nach links oder rechts weisende, vielmehr erheben sie sich aus der Schrägen in die Senkrechte und lassen dabei alle übrigen Oberlängen weit unter sich zurück.
Obwohl auch die anderen Oberlängen an dieser Stelle die Mittellängen stärker als sonst überragen.
Ein anderer charakteristischer Buchstabe für diese Stelle ist "g", dessen Schuh zwar nach oben offen ist wie bei BRGb, aber mit viel mehr Schwung als dort nach links ausgreift.
Das kleine "a" ähnelt jedoch sehr dem des frühesten Textanteils, BRGa.
Das Stück von Z 165 bis 168 ist offenbar nicht wie die beiden vorher besprochenen Nachträge als ein ganz neues Kapitel aufgefaßt worden: Es beginnt nicht mit "Item ...", und es beginnt nicht in einer neuen Zeile - letzteres freilich wäre an dieser Stelle auch gar nicht möglich gewesen, denn zwischen XXIII,2 und XXV hatte BRGa ausnahmsweise keine Leerzeile übriggelassen. Die letzte Zeile von XXIII,2 war jedoch kaum gefüllt und bot gerade genügend Platz für den Nachtrag XXIV.
Auch die beiden nächsten Nachträge auf BRG, BRGe und BRGf, beginnen direkt im Anschluß an den Schluß eines von BRGa eingetragenen Satzes, also nicht wie eigene Kapitel vorn in einer neuen Zeile, wozu doch die Möglichkeit bestanden hätte. Für diese drei Stücke BRGd, BRGf und BRGe beweist sich damit auch noch auf diese Weise, daß sie jünger sind als das, was an den Anfang der fraglichen Zeilen geschrieben worden war und der einheitlichen Hand angehört, die ich BRGa genannt habe.
Das kleine "d" von BRGd
Das kleine "g" von BRGd
Das kleine "a" von BRGd
Von Z 183 bis Z 185 (XXVI) wird die Endung "-bus" durch b und die -us-Kürung bezeichnet und nicht wie sonst im ganzen übrigen Text, doch ausgenommen auch XXIX - siehe unten, durch "b;".
vel infantem genuerit. expelletur. non rediturus nisi penitentia sua mediante et precibus talium virorum quibus deferri oporteat misericordiam consecutus fuerit.
Dem "a" mangelt bei BRGe wie BRGb das Dach, doch ist im Gegensatz zu BRGb hier das obere Ende des Schaftes noch zu sehen. Es biegt nicht von links um sondern steht ganz gerade.
Das untere Schaftende beim "s" endet hier und bei BRGf konsequent auf der Grundlinie und läuft in einen kleinen Bogen nach rechts hin aus; der Anfang einer für die nächste Epoche der Schriftgeschichte typischen Erscheinung: Gleichbehandlung der senkrechten Schäfte aller Buchstaben.
Dieser Nachtrag beginnt nicht nur nicht in einer neuen Zeile, es ist nicht einmal ein neuer Satz. Was zuvor von BRGa geschrieben worden war, hatte mit einem Doppelpunkt geendet und war auch vom Inhalt her auf eine Vervollständigung angelegt gewesen - ein weiterer Anhaltspunkt für die spätere Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Textes.
Das kleine "a" von BRGe
Das kleine "s" von BRGe
Der Übergang von BRGa zu BRGe an dem Doppelpunkt
Ganz genauso wie der Nachtrag BRGe verhält sich das zu BRGa, was in Z. 192 bis 195 folgt (XXIX); der letzte Satz von BRGa war unvollendet gewesen und hatte mit Doppelpunkt geschlossen, direkt anschließend ist die Vervollständigung in anderer Schrift eingetragen worden, auch wenne s hier möglich gewesen wäre, in einer neuen Zeile zu beginnen, wenn man ein neues Kapitel hätte markieren wollen.
si in filiorum procreacione defecerint et numquam de cetero se simul dormituros coram fratribus et sororibus votum fecerint. si sepe dicte domui necessarii fuerint inventi: more dissolutorum recipi possunt.
Hier gleichen zwar das "d" und das "a" einigermaßen demjenigen von BRGb (womit zugleich ein unterscheidendes Merkmal gegenüber dem unmittelbar zuvor davor stehenden Text BRGa genannt ist).
Aber die "-bus"-Kürzung ist hier wie im vorigen Nachtrag BRGe und damit ganz anders als bei BRGa–BRGf konstruiert.
Auch erhalten die "s" am Fuß des Schaftes feine Abstriche — ähnlich wie bei BRGe, aber doch nicht gleich, vielmehr gleichmäßiger und winkliger angesetzt.
Singulär an dieser Stelle ist das "r", denn dessen rechter Haken ist weit vom Schaft nach rechts abgedriftet.
Eigenartig ist auch das Zeichen, mit dem hier die Präposition und das Präfix "pro-" gekürzt wird: Der Rechtsbogen, den BRGa und, etwas anders, BRGc, links unten an den Langschaft des "p" angehängt hatten, ist hier mit dem Linksbogen auf der anderen Seite zu einer durchgehenden Schlangenlinie zusammengezogen worden.
Das kleine "d" und das kleine "a" von BRGf
Die "-bus"-Kürzung von BRGf
Das kleine "s" von BRGf
Das kleine "r" von BRGf
Die "pro-"-Kürzung von BRGf
Noch eine weitere Hand, die hier an das von BRGf Geschriebene anschließt (also nach diesem und erst recht nach BRGa am Werk gewesen sein muß) macht sich außerdem an zahlreichen Stellen in der ganzen Urkunde beerkbar. Sie hat sich nie an die vom ersten Schreiber festgelegten Zeilen gehalten, oft auch älteren Text über der Zeile korrigiert. Sie hat auch it einer dünneren Feder als alle bisher genannten geschrieben, und es gibt kaum Unterschied zwischen Haar- und Schattenstrichen. Von Abkürzungen macht diese Hand reichlichen Gebrauch. Im ganzen ist sie als Gebrauchsschrift zu bezeichnen im Unterschied zu den Urkundenschriften BRGa–BRGf. Da BRGa und BRGf für ihre Korrekturen und Anfügungen bereits vorhanden gewesen sein mußten, handelt es sich ohne Zweifel um eine nachträgliche Bearbeitung.
Von längeren Textpassagen sind in dieser Schrift geschrieben:
Die Buchstabenformen dieser kursiven Schrift sind selbstverständlich nicht mit denen der anderen Schriften auf BRG vergleichbaraber einige merkwürdige Einzelformen sollen nicht unerwähnt bleiben:
Gilliodts-van Severen, Règlement kennzeichnet diese Interlinearkorrekturen als Anmerkungen mit Mots rayés et surchargés de:, En interligne:,
Die Vervollständigung, die BRGe (XXVI) an BRGa (XXV,3) angeschlossen hatte, ist auf dem Rest der Zeile noch einmal erweitert worden: Z 187f. (XXVII). Die Schrift ist wie die von BRGg eine Kursive, und zumal diese Stelle heute nur noch undeutlich zu lesen ist, sollte man kaum viel dagegen argumentieren, daß es sich um einen weiteren Nachtrag von BRGg handelt. Doch hat diese Schrift eine andere Richtung als BRGg: Die langen Schäfte von "b", "s", "f" und "g" sind nicht nur besonders lang, sie neigen sich auch deutlich nach links. Auch sind die Schäfte kaum gerade, vielmehr s-förmig durchgebogen. Mit stillschweigendem Fragezeichen will ich deswegen doch für diesen Nachtrag eine besondere Bezeichnung, BRGh, beibehalten.
Ein einziges Mal in der Urkunde BRG ist der in Urkundenschrift geschriebene Text durch eine Interlinearkorrektur in ebenderselben Schriftsorte verändert: Z. 74 steht über der Zeile "excepto magistro". Die Buchstabenmenge ist natürlich viel zu gering, um die Schrift einer bestimmten Hand zuschreiben zu können. Doch ist auf jeden Fall das "x" ganz anders als bei BRGa und BRGc, am ehesten noch ähnlich wie bei BRGb
An der Fertigstellung dieser Urkunde BRG sind also bis zu 9 Hände beteilgt gewesen, mindestens 7. Die zum Teil wenig umfangreichen Nachträge geben kaum Deckung dafü+r zu behaupten, es habe sich um so viele verschiedene Schreiber gehandelt. Was für die Geschichte des Textes wesentlicher ist, wird aber doch klar: daß er nicht in einem Zuge, sondern zu neun verschiedenen Zeitpunkten nacheinander zusammengebracht worden ist. Die charakteristischsten Buchstabenformen zeige ich in der rechten Spalte. In der Strichstärke unterscheiden sich jedenfalls BRGg und BRGh vom Rest des Textes; im Schriftwinkel BRGc vom Rest. Über verschiedene Tintenfarben kann ich aufgrund der mir vorliegenden Fotografie und -kopie nur Vermutungen anstellen, das die Urkunde besitzende Archiv war jedoch so freundlich, anhand des Originals die oben dargelegten Unterscheidungen verschiedener Hände zu überprüfen und zu bestätigen, daß jedenfalls alle diese Textstücke Nachträge gegnüber BRGa sind.
Brief von Herrn H. Lobelle, Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn - Musea, St.-Janshospitaal, Brugge, vom 2.8.1984
Ein paläographischer Befund, der über den Rahmen des Schriftvergleichs hinausgeht, aber für die Rekonstruktion der Geschichte des Textes von nicht geringerer Bedeutung ist: Der Text von BRGa ist an verschiedenen Stellen mittels Durchstreichen getilgt. An einigen dieser Stellen (Z. 17, 50, 98, 110, 130) ist das Durchstrichene durch darüber geschriebene Wörter von BRGg ersetzt worden. An anderen Stellen (Z. 49-57, 144f.) lassen die Tilgungen unabgeschlossene Satzbruchstücke zurück.
An den beiden letzgenannten Stellen findet man besondere Zeichen unter oder in der Zeile. Auch sonst kommen gelegentlich derartige Zeichen vor. Es handelt sich um schräge oder liegende Striche mit darangesetzten Punkten – Verweiszeichen. Ähnliche Striche, jedoch ohne Punkte, sind an den Stellen in den Text hineingezogen, wo die überschriebenen Zusätze von BRGg eingefügt werden sollen.
Alle diese Tilgungen und redaktionellen Zeichen scheinen mit einer Feder von der Stärke ausgeführt worden zu sein wie die von BRGg benutzte, ohne daß das an sich schon für irgendeine Zuweisung srechen könnte.
Eine einzige Korrektur ist durch Unterpungieren vorgenommen: Z. 83. Die unkte scheinen eher mit einer breiteren Feder, ähnlich der für die Urkundenschriften auf B benutzten, gemacht zu sein. Das getilgte Wort ist auch nicht durch eine Einfügung von BRGg ersetzt, es war auch für das Verständnis des Sinns eher überflüssig, so daß man gut annehmen kann, daß sich hier BRGa selbst korrigiert hat.
Für die spätere Untersuchung der Geschichte des Textes wird es aufschlußreich, die Tilgungen und Verweiszeichen auf BRG mit dem Text der undatierten Brügger Urkunde BRG2 zu vergleichen. BRG2 fügt an all den Stellen, an denen in BRG ein Verweiszeichen ohne Bezug zu einer Interlinearkorrektur von BRGg vorkomm, einen eigenen Zusatz in den Text ein: am Ende von II, V, XXIV, oder ersetzt die Formulierung in BRG durch eine eigene: X (Z. 49-57), XXI (Z. 145). Daneben hat BRG2 weitere Zufügungen am Schluß.
Es fällt aber sehr schwer, die Schrift von BRG2 einer der an BRG beteiligten Hände zuzuweisen. (Am ehesten müßte man an BRGg denken, dessen überr den ganzen Text verstreute Einfpgungen mit Verweiszeichen einen ähnlichen Eindruck von Gesamtüberarbeitung hervorrufen, wie man sie sich , auf den ersten Blick, als Motiv einer Abschrift wie BRG2 denkt.) Denn BRG2 ist im Gegensatz zu BRG in einer Buchschrift geschrieben, wo allein wegen des anderen Schriftcharakters andere Buchstabenformen vorkommen, so daß man von diesen nicht auf verschiedene Hände schließen kann.
Soviel muß immerhin gesagt werden:
Weiteres erklärt sich wahrscheinlich einfach aus dem Buchschrift-Charakter von BRG2, so zum Beispiel der Ansatz des "R" in der "-or-"-Ligatur mitten am Bauch des "o", der bei flacherem Federansatz einfach naheliegt. Oder der konsequente Gebrauch der "et"-Ligatur anstelle des tironischen Kürzungszeichens für "et". Oder die Verwendung eines Sensenblattes statt der aufwärtsschwingenden Wellenlinie von BRGa als Kürzungszeichen für "m", "n" und Kontraktionskürzungen. Umgekehrt wird man die charakteristischen Buchstabenformen von BRGg ("r", "s", "e", "g" und "pro-") als speziell kursive Formen nicht in Buchschriftformen übersetzen können, so daß ein Vergleich mit BRG2 möglich wäre.
Im ganzen wirkt die Schrift auf BRG2, BRGa gegenübergehalten, viel gleichmäßiger. Die Buchstabenformen nähern sich vom Hochkantrechteck (BRG) dem Quadrat. Das Quadratformat des Schriftspiegels hinzugenommen, ergibt das einen beinahe plakatmäßigen Eindruck.
Verschiedentlich sind für das Ende des 12. Jahrhunderts mooderne Züge in die Schrift von BRG2 eingegangen: Gelegentlich werden die mittellangen Schäfte "gebrochen", meist die ersten in Buchstaben wie "u", "n", "m", und die in BRG noch zarten Fußstrichlein an den Schäften wachsen zu kräftigen Winkel- oder Bogenansätzen heran, die einen Schaft an den anderen anbinden. Die Oberlängen von "l", "b", "d", "h", zuweilen auch die Schäfte vin "i", "u", "p", werden "spachtelförmig" erweitert; die Unterlängen von "p", "q" bekommen Abstriche wie mittellange Schäfte. — Doch ist das nicht genug, um die Urkunde nach der Schrift wesentlich später als BRG (also 1188) zu datieren, etwa auf die 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, wie es G. MARÉCHAL ohne weiteres tut. Kommen doch hier und da auch in dem von BRGa geschriebenen Text gebrochene Schäfte, spachtelförmige Oberlängen, gleichorganisierte Unterlängen u. dgl. vor.
© Bernhard Höpfner 2002-2022.